Lasst mich doch mal in Ruhe!

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Flexibilität ja, dauernde Erreichbarkeit nein? Corona hat die Frage nach Fünferli oder Weggli oder eben nach der viel beschworenen Work-Life-Balance neu und mit Nachdruck gestellt.

Es gab einmal eine Zeit, da stand der Computer im Büro. Und daneben stand ein Telefon. Eines mit Kabel. Und der Fall war klar: Wenn Feierabend war, war Schluss.

Heute diskutieren wir über Work-Life-Balance, über die Grenzen der Erreichbarkeit. Darüber, dass wir klare Linien definieren sollten. Darüber, unter welchen Umständen wir notfalls dann eben doch erreichbar sind. Und darüber, dass diese «notfallmässige» Erreichbarkeit unglaublich schnell selbstverständlich wird. Wer kennt das nicht: Telepressure, FOM, genervte Partnerinnen oder Partner.

Eine Frage der Vorlieben – und der Umstände
Im frühen 21. Jahrhundert hat uns Corona die Vor- und Nachteile von Homeoffice, von digitalem Nomadentum, von Remote-Arbeit deutlich vor Augen geführt. Und es scheint, als hätten vor allem die Antworten auf diese Fragen die arbeitende Menschheit gespalten: Während die einen sich darüber aufregen, dass sich der Tag nicht mehr klar in Arbeit und Freizeit unterteilen lässt, freuen sich die anderen, dass sie fast jederzeit und überall arbeiten können. Aktuelle Studien belegen, dass rund 46 Prozent der Schweizerinnen und Schweizer gerne auch nach Corona mehr im Homeoffice arbeiten möchten – das ist im gesamteuropäischen Durchschnitt zwar relativ wenig, aber doch immerhin fast die Hälfte aller Berufstätigen. Während der fehlende Kontakt zu Kolleginnen und Kollegen für alle ein Minus ist, ist es genau die Flexibilität, die manche als mangelnde Abgrenzungsmöglichkeit und damit als Problem empfinden.

Aber nicht alle. Es gibt schon eine ganze Weile lang Arbeitsmodelle, die auf der Basis von freier Zeiteinteilung funktionieren. Surfer auf Hawaii suchen sich mit Vorliebe Arbeitgeber, die nicht Anwesenheit honorieren, sondern gemachte Arbeit. Weil es halt auch auf Hawaii nicht immer Wellen hat. Klar geht das nicht, wenn man Kassierin im Supermarkt ist. Aber in so und so vielen anderen Fällen geht es eben. Das Argument, andere Leute seien ja auch nicht spätabends oder frühmorgens erreichbar, verliert in einer immer globalisierten Welt, die permanent über Zeitzonen hinweg agiert, zunehmend an Bedeutung.

Auch hier gilt: Solche Optionen sind Fluch und Segen zugleich. Während eine junge Mutter die Flexibilität schätzt, dann arbeiten zu können, ist es für eine andere Person, die zwei Jobs in Teilzeitpensen aneinander vorbeijonglieren muss, mühsam, wenn die Arbeitszeiten nirgends definiert sind und sie immer das Gefühl hat, überall gleichzeitig sein zu müssen.

Es gilt, was immer gilt: Es gibt keine Patentlösungen. Während die einen postulieren, das Diensthandy gleich im Büro liegen zu lassen, finden es die anderen praktisch, Eiliges noch rasch am Abend erledigen zu können und dann am Morgen nicht stressen zu müssen.
Natürlich gibt es Fälle, in denen die Sache wirklich sehr vertrackt ist. Wenn ein Notfall-Psychiater die ganze Nacht auf Piket sein muss, aber nur bezahlt wird, wenn er einen Einsatz hat, ist das nicht fair. Denn eines ist klar: Freizeit ist Zeit, über die man verfügen kann. Auf Abruf an einem fixen Ort sein, nicht ins Kino können, das hat mit Freizeit wenig zu tun. Natürlich fordert sogar das EU-Recht eine Abgrenzung – allerdings, ohne scharf zu definieren, wie die aussehen sollte. Es ist einfach nicht so einfach.

Was hilft wirklich?
Was immer hilft, ist wohl die gute alte Ehrlichkeit. Der vorgesetzten Person gegenüber, aber auch sich selbst. Ältere Semester können da ruhig ein wenig bei den Millennials abgucken: Die sagen schon beim Job-Interview dezidiert, was sie wollen und was nicht. Versprechungen machen, die man nicht halten kann, unrealistische Anforderungen haben, ein Modell akzeptieren, von dem man weiss, dass es weder zum eigenen Charakter noch zu den eigenen Lebensumständen passt: Damit ist niemandem gedient. Es gilt also: Wissen, was man möchte, wozu man bereit ist, welche Bedingungen und Spielregeln gelten sollen. Und sich dann schlau machen. Und reden. Und dann entscheiden.

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